Die Geschichte der Annemarie Kreidl, adoptierte Annemarie Schierz (sorbisch  Hana Šěrcec), 1918-1943

Der Historiker Dr. Hermann Simon, Gründungsdirektor der Stiftung Neue Synagoge Berlin Centrum Judaicum, Träger des Verdienstordens des Landes Berlin, erforscht nicht nur verschüttete Spuren jüdischen Lebens in Berlin, sondern widmet sich auch Einzelschicksalen von Opfern der nationalsozialistischen Mordmaschine. Am 5. März 2024 besuchte er auf Einladung von Prof. Dr. Bernward Dörner unser Schulzentrum und nahm sein Auditorium mit auf eine bewegende historische Spurensuche.

Annemarie Kreidl wurde am 15. August 1918 als Kind der minderjährigen Jüdin Gertrud Kreidl (geb. 1900 in Dresden, ermordet in Auschwitz 1943) in dem kleinen Dorf Horka bei Bautzen geboren. Gertrud gab den Namen des Kindsvaters nicht an. 

Annemarie wuchs bei Maria Schierz auf, die sie auch adoptierte. Sie wurde getauft und katholisch in dem sorbisch geprägten Dorf sozialisiert. Trotzdem wurde sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns.

Die genauen Umstände ihres Todes sind immer noch ungeklärt.

Zwei Faktoren wurden der jungen Frau zum Verhängnis: Zum einen wurde in der Volkszählung im Mai 1939 angegeben, Annemaries vier Großeltern seien alle jüdisch gewesen – obwohl ihr Vater gar nicht bekannt war. Mit mehr als zwei jüdischen Großeltern wurden Menschen von den Nationalsozialisten als "Volljuden" eingestuft, verfolgt, deportiert und ermordet.

Darüber hinaus haben höchstwahrscheinlich auch Denunziationen aus der Dorfgemeinschaft dazu geführt, dass die Gestapo auf sie aufmerksam wurde.

Da bisher keine einschlägigen Ermittlungsakten aufgefunden werden konnten, ist man auf Erinnerungen von Zeitzeugen und deren Nachfahren angewiesen. Während Teile der Horkaer und Horkaerinnen sich um die historische Aufarbeitung – u. a. durch die Verlegung eines Stolpersteins – verdient gemacht haben, tabuisieren andere bis heute die tödliche Verfolgungsgeschichte einer Bewohnerin ihres Dorfes.

Marie musste sich regelmäßig bei der Dresdner Gestapo melden. Ab September 1941 war sie verpflichtet, den „Gelben Stern“ zu tragen; dieser Auflage scheint sie jedoch nicht nachgekommen zu sein. Als ihr der Kirchbesuch verboten wurde, soll sie sich auch daran nicht gehalten haben. Das letzte Foto von Annemarie Schierz ist mit „Pfingsten 1942“ (Pfingstsonntag 24. Mai 1942) beschriftet. Sie ist nicht in Tracht, weil ihr wohl verboten war, diese zu tragen.

Antisemitische Vorbehalte gegen Annemarie Kreidl waren bereits vor der NS-Machtübernahme bei dem Adoptionsverfahren aufgetaucht. Später, als Annemarie in der Gastwirtschaft ihrer Patentante zwischen Ostern und Sommer 1942 kellnerte, wurde sie entlassen, unter anderem, weil ein Gast sich laut geäußert hatte, er wolle nicht von einer Jüdin bedient werden. Auch eine Formulierung im Testament ihrer Adoptivmutter vom 22. Januar 1945 weist darauf hin, dass es in Horka durchaus Menschen gab, die gegen Annemarie Stimmung machten, sie verfolgten und denunzierten: „Meine Adoptivtochter Annemarie Schierz gbr. Kreidl gbr. den 15. August 1918 in Horka bei mir ist Erbin meines ganzen Besitzes, vielmehr hat sie das verdient[,] weil sie die schwersten Knechtarbeiten hier verrichtet hat. Ist aber vieler falschen Anzeigen wegen mir weggenommen worden.“

Die Spur von Annemarie Schierz verliert sich nach dem 26. August 1942. Die Umstände ihres sicher gewaltsamen Endes konnten bisher trotz aller Bemühungen nicht geklärt werden.

Wer heute durch Horka geht, wird an Annemarie Schierz u.a. durch einen Stolperstein mit einer sorbischen Inschrift erinnert, die in deutscher Übersetzung lautet:

 

„Annemarie Kreidl
Angenommene
Hana Šěrcec
Katholische Sorbin
jüdischer Herkunft
Geburtsjahr 1918
Verhaftet 1942
Ermordet 1943“

Dr. Hermann Simon beendete seinen Vortrag mit den bewegenden Worten:

„Das wirkliche und vielleicht einzig richtige Denkmal für Annemarie Schierz, die als Annemarie Kreidl von einer jüdischen Mutter geboren wurde und damit nach dem jüdischen Religionsgesetz jüdisch ist, besteht darin, ihr Schicksal weiter aufzuklären.

Dabei sei uns stets das biblische Wort des Propheten Joel vor Augen: ‚Davon erzählet euren Kindern, und eure Kinder ihren Kindern, und ihre Kinder dem nachkommenden Geschlecht.‘(Joel 1.3)“

Bernward Dörner (mit AvK)