Die Feier am 24.10.22 stand unter dem Motto "Nächstenliebe", dieser Begriff im Zusammenhang mit dem philosophischen und religiösen Wirken Edith Steins war auch das Thema des Gottesdienstes, der von A. Chylewska-Tölle und der Klasse IIbTZ gemeinsam gestaltet wurde.  Das Gebot Jesu "Du sollst deinen nächsten lieben wie dich selbst" (Markus 12, 28b-34), ist geläufig, von Edith Stein ist dazu überliefert "Der Nächste ist nicht der, den ich mag. Er ist ein jeder, der mir nahe kommt – ohne Ausnahme". Sie zeigt damit die Dimension, die in der Aufforderung Jesu liegt, jedem, wirklich jedem Menschen mit Liebe und Respekt zu begegnen, unabhängig von seiner Herkunft, Ausbildung und vor allem seiner Lebensführung und den Ansichten, die er vertritt. 

Passend zu dieser von Edith Stein formulierten Haltung lautete das Thema der anschließenden Podiumsdiskussion  in der Aula "Brauchen wir interreligiöse Bildung?" Moderiert wurde die Gesprächsrunde von Dr. Aleksandra Chylewska-Tölle, ihre Gäste waren Prof. Dr. Christine Funk, Islamwissenschaftlerin und Professorin für Katholische Theologie an der Katholischen Hochschule Berlin, Esther Hirsch und Kübra Dalkilic, beide Mitarbeiterinnen am House of one, ein Bauprojekt in Berlin, das sich dem Ziel der interreligiösen Annäherung verschrieben hat. In einem Gebäude sollen eine Moschee, eine Synagoge und eine Kirche Platz finden. Esther Hirsch, studierte Juristin, ist theologische Referentin im House of One und Kantorin in der Synagoge Sukkat Schalom. Kübra Dalkilic betreibt für das House of One einen interreligiösen Podcast , "3 Frauen, 3 Religionen, 1 Thema" (auf allen gängigen Plattformen verfügbar) und besucht gemeinsam mit Vertreterinnen anderer Religionen regelmäßig Berliner Grundschulen, um über religiöse Vielfalt zu sprechen.

Die Gesprächsrunde näherte sich dem Thema der Interreligiösität über die Frage, was religiöse Bildung überhaupt leisten sollte und könnte. Der Bogen zur Vermittlung religionsübergreifenden Wissens war damit schnell geschlagen und im Verlauf der Diskussion haben die Studierenden der Fachschule, die angehenden Sozialassistentinnen und auch die Lehrkräfte einiges lernen können. So erzählte Esther Hirsch, ausgehend von der Tradition der Fürbitten im christlichen Gottesdienst, von jüdischen Glaubens- und Denkstrukturen, die eine Delegation von Verantwortung nicht zulassen. Die Menschen sollen nicht Gott bitten, sie zu angemessenem Tun zu befähigen, sondern sich selber darum kümmern, wie sie sich verhalten und leben wollen und das auch umsetzen. Von Kübra Dalkilic erfuhren wir einiges über die muslimischen Gebete, die hierfür angemessene Kleidung und deren Integration in den Alltag.

Frau Prof. Funk betonte die Notwendigkeit, die Räume zwischen den Religionen, die mit dem Begriff „inter“ eröffnet werden, genauso intensiv zu beleuchten wie den Kern der Religionen selbst. Im "zwischen" ist enthalten, was die Glaubensrichtungen miteinander verbindet und das ist sehr viel mehr als gemeinhin angenommen wird. In allen Religionen geht es um Gott als Schöpfer und Richter, um Sünde und die Ordnung des Zusammenlebens.  "Doch nicht nur die Grundthemen und Fragestellungen sind in Bibel und Koran ähnlich – in beiden Büchern finden sich auch dieselben Figuren wieder, wie beispielsweise Adam, Abraham (Ibrahim), Mose (Musa) aber auch Maria (Maryam) und Jesus (Isaibn Maryam). Selbst einzelne Erzählungen ähneln sich teilweise bis ins kleinste Detail. So findet sich beispielsweise die Erzählung über Josef und seine Brüder, die ihn in einem Brunnen ertränken wollen, im Alten Testament (Genesis 37-50) und in Sure 12.[1]

In den Appellen, die von allen drei Vertreterinnen ihrer Religionen zu hören waren, ging es unmissverständlich darum, offen und neugierig auf das zunächst Fremde zuzugehen und die Bedeutung, die der Glaube im Leben des Individuums hat, zu respektieren, z.B. religiös begründete Essenseinschränkungen genauso zu tolerieren wie individuelle Vorlieben (Veganismus) oder gesundheitlich begründeten Verzicht (z.B. durch Laktoseintoleranz). Allen gemeinsam war auch der Wunsch, andere Religionen nicht nur in Form von Bücherwissen, sondern auch in direkter Begegnung mit Menschen kennenzulernen. Mitglieder einer fremden Religion können emotionale Aspekte ihres Glaubens und seiner Regeln anders vermitteln (nicht im Sinne von Missionierung), als es Außenstehenden möglich ist, da sie aus dem subjektiven Erleben erzählen können.

Aber durch rein subjektive Erfahrungen mit einem komplexen Thema können nicht alle Facetten erfasst werden, wie auch Frau Dalkilic betonte. Es ist wichtig, den Blick auch über das Individuum hinaus zu weiten.  Zum Verständnis gehört sowohl die distanzierte Auseinandersetzung wie auch das unmittelbare Erleben. Nur so können pauschale Urteile vermieden werden. 

Auch kritische Themen wie die Rolle der Frau in den verschiedenen Religionen wurden angesprochen. Spannend und für viele neu war die Information von Esther Hirsch, dass in den angelsächsischen Ländern Frauen selbstverständlich als Rabbinerinnen tätig sein können, im Gegensatz zum Katholizismus und zum Islam, die beide keine weiblichen Priesterinnen bzw. Imame kennen.

Ein anderes Thema war das Tragen von Kopftüchern, in westlichen Kulturen gern ausschließlich und pauschal als Instrument männlicher Unterdrückung der Frauen interpretiert - und die Ereignisse im Iran, in Afghanistan, Saudi-Arabien und anderen Ländern scheinen das zu bestätigen. Hier wird die weibliche Bevölkerung auf brutalste Weise gezwungen, sich männlichen Kleidungsvorschriften zu unterwerfen. Allein diese vermeintlich objektive Sicht der Dinge wird der Komplexität des Themas aber nicht gerecht. Wir lernten, dass viele Frauen das Kopftuch freiwillig tragen und es ihre ganz persönliche Entscheidung ist, auf diese Weise ihrem Gott zu dienen und ihren Glauben zu leben. Diese Art der Selbstbestimmung sollte in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht nur toleriert, sondern respektiert und geachtet werden.

Ein ganz herzliches Dankeschön geht an unsere Gäste Esther Hirsch und Kübra Dalkilic vom House of One, an Christine Funk von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen und an Dr. Aleksandra Chylewska-Tölle für die professionelle Organisation dieses besonderen Patronatsfestes.

Und wir danken allen anwesenden Schülerinnen und Studierenden für die liebevolle Vorbereitung des vielfältigen Fingerfoods, mit dem wir uns alle nach dem Gottesdienst stärken konnten. Engagiert haben sich hierbei die angehenden Sozialassistenten und Sozialassistentinnen von der Berufsfachschule, die Vollzeitklasse des ersten Jahrgangs sowie die TZ-b-Klassen der Fachschule für Sozialpädagogik. Es war lecker! 

[1] (Brüwer, Chr. 2021. Das Wort Gottes. Bibel und Koran im Vergleich. https://www.katholisch.de/artikel/29985-das-wort-gottes-bibel-und-koran-im-vergleich)