Studierende der Fachschule besuchen eines der letzten Strafverfahren gegen einen NS-Täter
Ein Artikel der Journalistin Renate Meinhof („Die Wahrheit prallt an ihm ab“, SZ Online, abgerufen 02.12.2021) gab den Anstoß zu einer Exkursion der Semestergruppen FS I a und b Vollzeit unseres Schulzentrums am 9. Dezember 2021. In diesem Beitrag berichtete Frau Meinhof über einen Strafprozess in der Stadt Brandenburg. Das Landgericht Neuruppin verhandelt dort gegen einen 101jährigen ehemaligen Bewacher des Konzen-trationslagers Sachsenhausen, der wegen Beihilfe zum Mord an über 3518 Menschen angeklagt ist. Josef S., Jahrgang 1921, diente dort zwischen Oktober 1941 und Februar 1945 in verschiedenen Kompanien des SS-Wachbataillons. Insgesamt wurden im KZ Sachsenhausen etwa 200.000 Menschen gefangen gehalten. Zehntausende von ihnen starben. Der Angeklagte behauptet, den ganzen Krieg nur in der Landwirtschaft gearbeitet zu haben, eine Uniform habe er nie getragen. Er sei überhaupt nicht Wachmann im KZ Sachsenhausen und seinen Außenlagern gewesen. Dem widersprechen seine eigenen Angaben zur Sozialversicherung in der DDR, nach denen er „Wehr- und Kriegsdienst“ geleistet hat. Die umfangreichen Ermittlungen der Anklagebehörde haben zudem zahlreiche Unterlagen zum Vorschein gebracht, die beweisen, dass Josef S. als Wachdienst im Oranienburger Lager tätig war.
Die Verhandlung wird, pandemiebedingt und um dem Angeklagten, der nur an zwei Tagen pro Woche jeweils zwei Stunden verhandlungsfähig ist, gesundheitlich nicht zu überfordern, in einer Turnhalle unweit der Justizvollzugsanstalt Brandenburg durchgeführt. Der Besuch dort gab uns die Gelegenheit, uns ein Bild von dem Prozess zu machen. Der von uns besuchte Verhandlungstag war von den Ausführungen des historischen Gutachters, Dr. Stefan Hördler, geprägt. Er schilderte detailliert die Aufgaben derjenigen Wachkompanien, denen der Angeklagte angehört hat. Sie belegten, dass diese SS-Einheiten – und damit auch der Angeklagte – Beihilfe zum Mord geleistet haben: Sie verhinderten nämlich die Flucht der KZ-Gefangenen und unterstützten damit die Ermordung derer, deren Weiterleben vom NS-Regime keine Bedeutung mehr beigemessen wurde.
Bemerkenswert war, dass sowohl der Anklagevertreter, Oberstaatsanwalt Klement, als auch der wichtigste Vertreter der Nebenkläger, Rechtsanwalt Thomas Walter, sich in der Verhandlungspause Zeit nahmen, uns die Bedeutung des Verfahrens zu erläutern und auf Fragen der Studierenden einzugehen. Hier ist hervorzuheben, dass Walther (ein früherer Richter, der danach Chefermittler der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg war) Rechtsgeschichte geschrieben hat: Er trug dazu bei, dass der Bundesgerichtshof im Jahre 2016 seine Rechtsprechung geändert hat. Dem NS-Täter müssen nicht mehr, wie in den Jahrzehnten zuvor, konkrete Mordtaten nachgewiesen werden – weswegen diese zu zehntausenden straflos davonkamen. Der BGH bestätigte ein Urteil des Landgerichts Lüneburg, dass für Beihilfe zum Mord genügt, Teil der Vernichtungsmaschinerie gewesen zu sein. Walther betonte, dass diese neue Rechtsauffassung eigentlich zuvor schon hätte selbstverständlich sein müssen. In allen gewöhnlichen Strafverfahren, die sich nicht gegen NS-Täter sondern z.B. gegen Bankräuber richteten, wäre jemand, „der pfeife, wenn die Bullen kommen“ selbstverständlich auch ohne das Betreten der Bank wegen Beihilfe verurteilt worden. Staatsanwalt Klement erläuterte uns, dass erst durch die BGH-Entscheidung aus dem Jahre 2016 das Verfahren gegen Täter wie Josef. S. möglich wurde. Damit werde versucht, die Verbrechen der NS-Zeit – soweit dies noch möglich sei – nicht ungesühnt zu lassen.
Die beiden Semestergruppen und ihr begleitender Lehrer, Dr. Bernward Dörner, sind dankbar, dass wir Zeugen dieser leider späten, aber notwendigen Bemühungen unseres Rechtsstaats sein durften.